Ausschreitungen nach „Ja“ für Mega-Staudammprojekt
Von Sebastian Grundberger
Mit teilweise gewaltsamen Protesten hat sich der Volkszorn letzte Nacht in Chile Bahn gebrochen. Im ganzen Land gingen Tausende Menschen gegen ein Votum der Umweltkommission der patagonischen Region Aysén auf die Straße. Das zwölfköpfige Gremium hatte sich gestern mit elf Stimmen und einer Enthaltung für den Bau des aus fünf Staudämmen bestehenden Mega-Energieprojektes „HydroAysén“ausgesprochen. Gegner des Projektes befürchten eine Zerstörung des einzigartigen Ökosystems in Patagonien und werfen der Kommission mangelnde Unabhängigkeit vor.
Schauplatz der schwersten Zusammenstöße war Coyhaique, die Hauptstadt der Region Aysén. Unmittelbar nach der Abstimmung bewarfen dort aufgebrachte Demonstranten das Gebäude der Umweltkommission mit Pflastersteinen und Flaschen. Die Fensterscheiben des Autos des Bürgermeisters der Stadt wurden ebenfalls zerstört. Die Polizei evakuierte das Gebäude und löste die Demonstration unter Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern auf. Auch in weiteren Städten wie Santiago, Temuco und Valparaíso kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Laut Polizei wurden während der Nacht mindestens 54 Personen festgenommen, darunter der sozialistische Parlamentsabgeordnete Sergio Aguiló.
Kontroverse um Transparenz
Regierungssprecherin Ena von Baer bezeichnete die Abstimmung als „transparent“. Die Gegner des Projektes rief sie auf, die „Institutionen zu respektieren“ und die Entscheidung nicht in einen „Zirkus“ aus Verlautbarungen und Verdächtigungen zu verwandeln. Jede Anklage gegen die Entscheidung zeuge von Verachtung für die „hunderten Beamten dieser und der letzten Regierung“, die daran gearbeitet hätten, das Projekt „strikt“ auf seine Umweltverträglichkeit zu überprüfen. Die Ausführung des Projektes werde sich „hundertprozentig“ an die geltenden Umweltnormen halten, versprach sie. Die Regierung erhofft sich von „HydroAysén“ einen Quantensprung für die Energieversorgung und will durch Wasserkraft bis zu 20 Prozent des Energiebedarfs Chiles decken.
Keine unabhängige Kommission
Der Umweltaktivist Manfred Max-Neef hingegen fragte sich hingegen öffentlich, ob die Verantwortlichen für HydroAysén „wirklich pervers oder einfach nur dumm“ seien. Alle elf Personen, die für das Projekt gestimmt hätten, seien „in irgend einer Weise mit der Regierung verbunden“. In einem „zivlisierten“ Land seien derartige Kommissionen aus unabhängigen Experten zusammengesetzt.
Auch aus dem Regierungslager melden sich oppositionelle Stimmen. Ungewöhnlich scharf kritisierte der Senator der Regierungspartei Renovación Nacional (RN), Präsident Sebastián Piñera habe ein „Eigentor“ geschossen. Seine Versprechungen vor der Wahl hätten viele Umweltschützer dazu gebracht, ihm seine Stimme zu geben. Jetzt protestierten sie gegen ihn auf den Straßen.
Im Fokus der Kritik steht auch Innenminister Rodrigo Hinzpeter. Kurz vor der Abstimmung hatte er betont, HydroAysén sei „gut“ für das Land. Gegner des Projektes sehen hierin eine ungerechtfertigte Ausübung von Druck auf die Stimmberechtigten.
Jenseits von Gut und Böse
Der christdemokratische Abgeordnete Patricio Vallespín fasste das Gefühl vieler zusammen, als er erklärte, sowohl die Gewalttätigkeit mancher Demonstranten als auch die Art und Weise der Abstimmung lägen jenseits von Gut und Böse: „Weder das eine noch das andere ist das, was wir in einem Land brauchen, das Nachhaltigkeit, Entwicklung und Respekt für den Willen der Menschen sucht“, so der Politiker.
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(Quelle: Blickpunkt Lateinamerika.)
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